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Dr. Christian Grube

Offenheit des Leistungskatalogs der Eingliederungshilfe

Für Fachleute des Behindertenrechts und der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX ist es keine Frage, dass der Leistungskatalog für die Soziale Teilhabe nach §§ 76, 113 SGB IX nicht abschließend ist. Dennoch sollte an diesen Umstand immer wieder erinnert werden. Dafür eignen sich zwei gerichtliche Entscheidungen, die Sachverhalte betreffen, über die sich die Allgemeinheit vielleicht etwas wundern dürfte. Beide Urteile, die hier angezeigt werden, zeigen in eindrucksvoller Weise die Offenheit des Leistungskatalog der Eingliederungshilfe. Es handelt sich nämlich um das Begehren eines Menschen mit Behinderungen auf Übernahme der Reisekosten einer Begleitperson für eine Kreuzfahrt mit zwei Landgängen. In der anderen Entscheidung war eine Hilfe für eine sogenannte Sexualbegleitung streitig.

Das Bundessozialgericht (Urteil v. 19.05.2022, B 8 SO 13/20 R) hat den Streit wegen der Kreuzfahrt noch nach der Fassung des SGB IX (und des SGB XXII) entschieden, die vor dem BTHG galt; die Ausführungen des Gerichts sind aber 1:1 auf die jetzige Rechtslage zu übertragen. Das BSG betont, dass die Eingliederungshilfe einen „offenen Leistungskatalog“ aufweist und die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft auch das Bedürfnisnach nach Freizeit und Freizeitgestaltung umfasst. Da alle Menschen dieses Bedürfnis haben, entstehe dadurch für sich genommen allerdings noch kein behinderungsbedingter Bedarf. Unter Hinweis auf Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und auf Art. 30 Abs. 5 UN-BRK betont das BSG, dass Menschen mit Behinderungen keine Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten werden dürfen, die anderen offenstehen. Sehen sich daher behinderte Menschen mit besonderen Kosten zur Durchführung der Freizeitgestaltung konfrontiert, die gerade wegen ihrer Behinderung entstehen, sind diese Mehraufwendungen vom Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen umfasst. Für die Frage der Notwendigkeit der Aufwendungen gelte ein „individueller und personenzentrierter Maßstab, der einer pauschalierenden Betrachtung regelmäßig entgegensteht“. Die Vorstellungen des Trägers der Eingliederungshilfe seien insoweit unerheblich.

Bemerkenswert sind die einzelfallbezogenen Bemerkungen des BSG zu dem Wunsch des behinderten Menschen, eine einwöchige Kreuzfahrt auf der Nordsee zu unternehmen. Denn das BSG weist darauf hin, dass 72 % der Menschen ohne Beeinträchtigung und 50 % der Menschen mit Beeinträchtigung jährlich mindestens eine einwöchige Urlaubsreise unternehmen. Daher gehe der Wunsch des Klägers nicht über die Bedürfnisse eines nicht behinderten Erwachsenen hinaus. Die Mehraufwendungen bestanden hier darin, dass die Kreuzfahrt nur mit Begleitung eines Assistenten durchführbar war, denn der Kläger war wegen einer spinalen Muskelatrophie auf einen Rollstuhl angewiesen.

Die zweite Entscheidung (SG Hannover, v. 11.07.2022, S 58 U 134/18) betrifft das Begehren wegen einer Hilfe für eine sogenannte Sexualbegleitung für einen schwer behinderten jungen Mann. Das SG, das die Hilfe zugesprochen hat, macht insoweit nur relativ kurze rechtliche Ausführungen. Es verweist auf § 76 SGB IX und darauf, dass die dort erwähnten Leistungen nicht abschließend gemeint seien. Sodann wird in rechtlicher Hinsicht nur noch festgestellt, dass die Sexualbegleitung ihren Schwerpunkt in der Verbesserung der Lebensqualität des Klägers und der Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse habe und damit ein elementares menschliches Grundbedürfnis betreffe. Dass sich der Sexualkontakt im geschützten Intimbereich und nicht in der Außenwelt abspiele und damit nicht die Teilnahme am Leben in der „Gemeinschaft“ betreffe, hat das SG als nicht entscheidend angesehen.

Die Hilfen für eine Sexualbegleitung bzw. Sexualassistenz stehen schon seit langem in der Diskussion (vgl. dazu die ausführliche Anmerkung zu dem Urteil von Sieper, jurisPR-SozR 22/2022 Anm. 3). Gegen das Urteil ist Berufung eingelegt worden.

Beide Urteile, sowohl das Urteil wegen der Kreuzfahrt als auch das zur Sexualbegleitung könnten bei der Bevölkerung gewisse Irritationen auslösen. Umso mehr ist es notwendig, eine offene Diskussion über die Ziele der UN-BRK und des § 1 SGB IX zu führen.

Dr. Christian Grube

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